Zwanzig Besucher trafen sich im Gesprächskreis SundMehr am 28.04.2017 zum Thema Was macht Schmerz geil? Gast zum Thema, war Ethnologe und Psychiater Prof. Dr. med. Dr. phil. Peter Kaiser, der im Juli 2016 ein Buch „Heilige Qual und die Lust am Schmerz Spiritualität und Sadomasochismus“ veröffentlicht hatte.
Für einige Teilnehmer überraschend, wurde die Vorstellungsrunde mit der Gretchenfrage Wie hältst Dus mit der Religion? verbunden, was dem Gast, der eine seiner Doktorarbeiten dem Thema Religion in der Psychiatrie gewidmet hatte, Aufschluss über die Hintergründe der Anwesenden geben sollte spannt seine jüngste Buchveröffentlichung doch einen Bogen von Spiritualität zu Sadomasochismus. Bei den Statements der Anwesenden zeigte sich, dass sich fast jeweils ein Viertel der Anwesenden als explizit gläubig und ebenso viele als atheistisch oder nicht gläubig empfanden, wobei ein Mittelfeld in die eine oder andere Richtung tendierte; z.T. auch ohne feste Definition, ob ein vorhandener Glaube den christlichen- oder kirchlichen Vorstellung entspricht. Als nach der Vorstellungsrunde eine Rezension der wissenschaftlichen Arbeit angelesen wurde und der Religionswissenschaftler Peter Kaiser das Wort bekam, erläuterte er gleich, dass auch er die Vorstellungsrunde peinlich empfand, was der Erfahrung entspräche, dass es bei Befragungen zwei
Tabuthemen gäbe: die Sexualität und die Religion. Dennoch träfen wir uns hier und immer wieder kämen beide Themen zur Sprache.
Mit Bezug auf das Vorstellungs-Statement eines Teilnehmers, der beschrieben hatte, dass er schon als Kind museale Ausstellungen mit kirchlichen Märtyrern faszinierend fand, erläuterte er, dass hierbei kennzeichnend gewesen sei, dass er wohl keine detaillierten Abbildungen von Geißlern gesehen habe. Dies sei dem Umstand geschuldet, dass Märtyrer eben schnell getötet und dann auch schnell heiliggesprochen worden seien. Mangels Christenverfolgung, wie in der ausklingenden Antike, gab es zudem die Möglichkeit des Martyriums nicht und sich in aufwändiger und publikumswirksamer Weise selbst zu kasteien sei bevorzugt Sache von Personen aus der mittelalterlichen Oberschicht
gewesen: viele Mystiker seien aus dem Adelstand gekommen. In Zeiten, in denen weniger bemittelte Menschen sich keine Ablasszahlungen leisten konnten, seien diese auf die Idee gekommen, im Nachvollzug des Leidens Christi Vergebung der Sünden zu suchen zumal im Mittelalter die Angst vor der Verdammnis und dem Fegefeuer groß gewesen sei. Anfänglich stand die Kirche den Geißlern positiv gegenüber, da diese das Leiden im Namen Christi befürwortete. Erst als die Geißler zunehmend unabhängig auch von den Geboten der Amtskirche agierten und deren Autorität in Frage stellten, wurde die Bewegung, die sich von Norditalien ausbreitend immer weitere Bevölkerungsschichten erfasst hatte, von Rom mit Verboten belegt.
Mit Bezug auf sein Buch, meinte der Gast dann, dass es ihm weniger um dessen Vorstellung ging, als darum, mit uns ins Gespräch zu kommen. Dazu schlug er vor, die Zusammenfassung im hinteren Teil gerafft vorzulesen und bat die Runde um Rückfragen, zur jeweiligen Erläuterung seiner Grundaussagen:
Der sexuelle Trieb sei kaum unterdrückbar und kann zu einer Gefährdung des Zusammenhalts von sozialen Gruppen führen. Darum wird er von den meisten religiösen Gemeinschaften eingeschränkt oder kontrolliert weil er eben nicht das Sozialverhalten stärkt, sondern die Fortpflanzung sichert (letztlich die Weitergabe der eigenen Gene [Anm. J.W.]). Die Vorstellung von ganz offenen Beziehungen, bei indigenen Völkern, die aus der Runde eingeworfen wurde, verwies Kaiser in das Reich der Ammenmärchen, wobei die Ehe hier oft eine Funktionsgemeinschaft sei und nicht unbedingt eine lebenslange Zweierbeziehung. Auch wirklich matriarchale Gesellschaften gäbe es weltweit nicht mehr. Bei einer sich kurz entspinnenden Diskussion wurde der Unterschied einer Matri-Linearen
Beziehung und eines Matriarchats erläutert. Zudem: wo es letztere gab, waren die Außenminister und für Kriegführung zuständigen Obrigkeiten immer männlich gewesen da es hier schlichtweg auch um Körperkraft gegangen sei.
Religiöse Gemeinschaften, fuhr der Ethnologe dann weiter mit der Zusammenfassung seiner Hauptaussagen fort, bei denen das Wohl des Individuums höher gilt, als das der Gemeinschaft, bilden hier die Ausnahme (z.B. der Daoismus), bezüglich der Einschränkung der Sexualität. Sexualität wird darum auch oft als Hemmnis für spirituelle Entwicklung betrachtet und Religion als Hemmnis für Sexualität. Im Vergleich mit anderen Religionen hat allerdings das Christentum die Sexualität in besonderem Maße geächtet und dadurch ausgerechnet auch überhöht.
Schmerz, der nicht als unangenehm erlebt wird, kann lustvoll erlebt werden (wie beim Kratzen eines Mückenstiches). Es kommt also immer auf den Kontext an, wie die Schmerzerfahrung bewertet wird.
Sexualität könne durchaus auch zu einem Unio Mystica Erlebnis führen einem Gefühl der Entgrenzung, fast wie in Trance, das oft verglichen wird, mit einer Verschmelzung mit dem Göttlichen. Darum könne sie auch spirituell werden.
Ausgesprochen schwer war es an diesem Abend, Prof. Dr. Dr. Kaisers äußerst lebendigem Vortrag für diese Rückschau zu notieren. Immer wieder flossen humorvolle Beispiele ein, wie das für die Aussage, dass auch bei uns für eine positive Schmerzbewertung ein Bezugsrahmen notwendig ist, der ein überschaubares, kontrollierbares Restrisiko übrig lässt. Selbst wenn viele von uns angeben, gerne ganz hilflos sein zu wollen. Zur Situation, wenn sich Sadomasochisten bei einer SM-Session „nadeln“ lassen wollen, beschrieb Kaiser, was einem Passiven für Gedanken durch den Kopf schießen könnten, der mit verbundenen Augen da liege und höre, wie jemand sagt „Oh, die ist mir jetzt runtergefallen“ und ein anderer „die kann man ja nochmal nehmen“ Und leicht erheitert bestätigte das Gros der Anwesenden dass dann erotische Gefühle eher verfliegen.
Zum Thema der Neurotheologie meinte Kaiser, dass es diese eigentlich gar nicht gebe. Die entsprechenden Forschungen seien Anfang des Jahrtausends von interessierten, evangelikalen Kreisen in den USA finanziert worden, wohl um eine Art Gottes-Beweis, oder zumindest den Sitz der Seele zu finden. Dennoch habe man nun die Ergebnisse und weiß, in welchen Hirnregionen Zustände bei Meditation und anderen entgrenzenden Erfahrungen aktiviert werden allerdings eben nicht nur bei der Vorstellung eines konkreten Gottesbildes (wie beim christlichen Gebet), sondern auch bei der angestrebten Nulllinie bei einer meditativen buddhistischen Versenkung bei der eben keine Anhaftung an konkrete Bilder stattfinden soll sondern das Eintauchen in ein Nichts. Und an Nichts zu denken, sei alles andere als einfach. Auch hier kam es zu eher heiteren Kommentaren Anwesender, die meinten Leute zu kennen, die hierin selbst im Alltag eine natürliche Begabung zeigten. Tatsächlich würden die entsprechenden Hirnregionen nicht nur bei Situationen, die eine Entgrenzung und latente räumliche Desorientierung zur Folge haben können, sondern auch beim Orgasmus aktiviert.
Zur Frage, was nun Schmerz geil mache, verwies der Psychiater auf die Dopamin-Ausschüttung im Gehirn. Endorphine allein seien es nicht, denn diese würden Schmerzunempfindlich machen. Dopamin docke an dieselben Rezeptoren an, wie Kokain und führe zu einer starken Lust auf Neues, bei einschätzbarem, bekannten Restrisiko, bezogen auf die bevorzugte Erfahrung. Durch Wiederholung kann ein Lust-Kick entstehen fast wie bei einer Sucht. Bungee-Jumper würden auch nicht unbedingt auf einen Fallschirmsprung überwechseln, sondern könnten davor auch größte Angst haben.
Aus der Runde wurden Erfahrungen aus einer intensiven Flag-Session
beschrieben: Die Anwesende, die davon berichtete, sei wie in Trance heimgefahren und hätte zu Hause nicht mehr gewusst, wie sie den Weg bewältigt habe (und schwor sich, nie mehr nach einer solchen Session Auto zu fahren). Kaiser führte dies auf den Zustand einer Alertness zurück, wie nach einem Unfall, wenn Verletzte sich an den Hergang nicht mehr erinnern können. Das Gehirn ist noch ganz damit beschäftigt, das Geschehen zu verarbeiten. Man ist hellwach, jedoch auf wenige Informationskanäle focussiert. Durch Erinnerung kann dies länger wachgehalten werden. Auch, in dem man bei der Autofahrt auf der entsprechenden Körperstelle sitzt und sie schmerzhaft spürt. Der Reiz ist immer noch da, wird nacherlebt und das Gehirn konzentriert sich darauf. Weitere Fragen ergaben sich zu den Zuständen, überhaupt nach einer Session. Bei als angenehm empfundenen Körperberührungen wird das Hormon Oxytocin ausgeschüttet, das in der Regel die Bindungsgefühle der Beteiligten stärkt. Dass dies nach einem Orgasmus kürzer ist, als nach einer SM-Session, führt Kaiser darauf zurück, dass die Zeit, die für das Geschehen aufgewendet wird, bei SM ja auch viel länger ist, als beim als normal empfundenen Sex. Dreht sich hier die Aktivität um mehrere Minuten, scheint es bei SM doch um Stunden zu gehen. So sei die Erinnerung dadurch intensiver und das Geschehen bliebe auch länger im Gedächtnis. Aus der Runde wurde die Vermutung geäußert, dass viele Masochisten darum auch so stolz auf ihre Spuren seien, weil sie ein intensiveres Nacherleben ermöglichen.
Auch nachdem am Ende des moderierten Teiles noch der Schluss der Rezension verlesen und der eloquente Gast verabschiedet wurde, wollten die Besucher Prof. Dr. Dr. Kaiser kaum gehen lassen und diskutierten noch lange, teils in Einzelbeispielen, teils allgemeiner Art religionswissenschaftliche Themen, teils weitere Aspekte der Schmerzwahrnehmung. Die Rückfrage einer Anwesenden, wie es denn mit der Thematik sei, was die Lust ausmacht, anderen Schmerzen zuzufügen, machte Auffällig, dass diese zwar zugehörige, aber doch ganz andere Frage im Kontext des Geschehens, nicht erörtert worden war. Zumindest die Anfrage ergab sich daraus, ob der Gast bereit wäre, dieser Thematik einen eigenen Abend bei uns zu widmen.
Eine ausführlichere Rezension , als die am Abend angelesene, findet sich hier.
www.sundmehr.de in Kooperation mit AK SMuC: www.sm-und-christsein.de
Quelle: SWL